Donnerstag, 10. Januar 2008

Tanz in der Johannisnacht

1


Es war schon spät in der Nacht, als sich Niklas mit seiner Fiedel unterm Arm auf den Weg zurück ins Heimatdorf machte. Er war guter Dinge, pfiff eine etwas melancholisch anmutende Melodie vor sich hin, die ihm schon seit ein paar Tagen nicht mehr aus dem Sinn gehen wollte und schaute nochmals zurück zur Wolfersmühle, wo er eben noch mit seinen drei Freunden so fröhlich musiziert und die Leute des Dorfes zum Lachen, Mitsingen und Tanzen gebracht hatte. Vom Mühlenhof, der im Tal unten bereits von einigen großen Walnußbäumen verdeckt wurde, hallte noch immer das Singen und Lachen der Zurückgebliebenen zu ihm hinauf. Hin und wieder grölte auch einer übermütig; das mußte Hannes sein, der es bei keiner Feier lassen konnte, sich zu betrinken, sobald sein mürrisch dreinblickendes Weib sich mit seinen beiden Töchtern nach Hause begeben hatte, jedesmal mit der bitteren Mahnung auf den Lippen, doch recht bald nachzukommen und nicht wieder die Kammertür zur Magd mit der zum ehelichen Gemach zu verwechseln.

Es tat ihm leid, daß er nicht länger hatte bleiben können, obwohl ihm das spendierte reichliche Essen und die schäumenden Krüge Bier so herrlich gemundet hatten. Wie gerne hätte er noch mit Florian und Bastel, seinen beiden Begleitern am Baß und auf der Trommel, ein paar zünftige Weisen zum besten gegeben, um dann anschließend mit einer der jungen Mägde oder gar mit dem hübschen Müllerstöchterlein zu plaudern und sich bei passender Gelegenheit gemeinsam in die nahen Büsche zu schlagen, um der Holden ein Küßchen oder sogar ein kleines Versprechen zu entlocken. Kommt Zeit, kommt Rat, tröstete er sich und war sich sicher, das nächste Mal besser davonzukommen.

Heisassa, ihr Leit tanzt alle
Kumm, mir trinken noch paar Schalle,
Madel gab mer noch enn Kuß
Eh ich noort ehaam gieh muß.

Ja, das wars, das wäre ein wirklich prächtiger Kehrreim für das Liedchen, das ihm so gar nicht aus den Kopf gehen wollte. Die Melodie dazu war zwar etwas schwermütig und geheimnisvoll, aber das machte vielleicht gerade den eigentümlichen Reiz des Stückes aus. Flugs nahm er seine Fiedel und stimmte, leise dazu trällernd, ein paar Takte an. Da würden die Burschen und Mädchen leuchtende Augen bekommen, wenn er ihnen sein neues Lied zur nächsten Kirchweihfeier völlig unverhofft präsentieren würde. Er hatte eben wirklich eine poetische Ader, wie ihm sein alter Schulmeister und Kantor schon früher immer wieder versichert hatte. Dieser hatte ihm dann auch die ersten Geigengriffe auf seinem Instrument beigebracht.

In den Sträuchern, die den Weg säumten, raschelte es leise. Er hörte auf zu spielen und lauschte, konnte aber niemanden entdecken. Sicherlich hatte er nur die Ruhe irgendeines Kleingetiers gestört, das wie er die schöne laue Nacht mit all ihren süßen Düften genießen wollte. Alles blieb ruhig; nur die Johanneswürmchen tauchten das dunkle Kratzbeergestrüpp in ein schauriges, gespenstisch schimmerndes Licht.

Komm mit raa un bring de Ruh nei
Sing paar Lieder, daß mir fruh sei
Un vergassen unre Ploch
Tanz mer bis zum nächsten Toch.

Das hätte er heute Nacht am liebsten auch gemacht, doch mußte er sich gerade dieses Mal sputen, weil er unbedingt bis zum frühen Morgen in sein Dorf zurückkehren wollte, um noch etwas ausschlafen zu können, bevor er sich mit dem griesgrämigen Meister zum Kirchgang bequemen mußte. Und einen Tag später, da sollte es schon ganz zeitig in der Frühe ans Rackern gehen, weil angeblich ganz besonders dringende und schwere Arbeit zu erledigen war. Dann könnten gewisse junge Leute mal zeigen, ob sie auch noch etwas Mumm in den Knochen hätten, besonders solche, die zur Johannisnacht unbedingt ausgehen müßten, um sich zu betrinken und allen möglichen gottlosen Mummenschanz zu treiben. So etwas hätte es früher nicht gegeben, hatte sein mürrischer Gevatter noch boshaft bemerkt, doch er wäre eben nur ein einfacher, redlicher und gottesfürchtiger Mann und bloß der belesene Herr Pfarrer könne wissen, wieviel Freiheit man der Jugend heutzutage gestatten dürfe. Der Alte war wirklich ein mißlauniger Grobian, der zudem von Musik und Gesang nicht die leiseste Ahnung hatte und ihm mit seinen Grillen das bißchen Lebensfreude, das man sich noch ab und zu vergönnte, so richtig vergällen konnte. Am liebsten wäre er singend und fiedelnd als fahrender Geselle durch die weite Welt gezogen. Stattdessen bekam er im Dorf immer wieder zu hören, wie dankbar er doch sein müsse, als Tischlergeselle direkt im Ort Arbeit gefunden zu haben. Das hätte er nur dem seligen Andenken an seinen Vater zu verdanken und überhaupt, ein anderer hätte sich schon längst mit der Tochter des Tischlermeisters liiert, auch wenn die eine ziemlich sauertöpfische Jungfer war.

Ner aans von de süßen Gunge.
Den ich schu manchs Lied gesunge
Ner su 'n Madel will ich habn
Ihr mei ganzes Laabn hiegaabn.

Ja, die bildhübsche Tochter des Müllers, die wäre so ein Mädchen, das er sich auch recht gut als sein Bräutchen vorstellen könnte, doch deren Vater hatte mit ihr wohl ganz andere Pläne, als sie gerade ihm, dem nichtsnutzigen und übermütigen Habenichts von Musikanten zu überlassen, um sie dann beide seinen Lebtag lang durchzufüttern.

Am Abend hatte er zum Johannisfeuer recht lange mit einigen Freunden vor den Flammen gesessen, wo sie sich gegenseitig jede Menge alter und neuer Geschichten erzählt hatten. Besonders die etwas gruseligen und geheimnisvollen mochte er ganz besonders. Da ging es um verborgene Schätze, die man gerade in einer solchen Nacht wie heute heben konnte, aber auch um schaurige Moritaten und Räuberpistolen, die sich in fremden Ländern oder auch ganz in der Nähe irgendwann einmal zugetragen haben sollten.

Bei allen diesen Gedanken und Geträller hatte Niklas ganz vergessen, daß er sich doch beeilen mußte, wenn er bis zum Morgengrauen nach Hause kommen wollte. Er klemmte also geschwind seine Fiedel wieder unter den Arm und eilte mit weit ausholenden Schritten den steil den Berg hinaufführenden Weg entlang. Die letzten Häuschen des Dörfchens Bärenheide lagen schon weit hinter ihm, auch den einsamen idyllisch gelegenen Friedhof mit seiner kleinen Friedhofskapelle hatte er längst hinter sich gelassen, und nur der hell strahlende Mond wies ihm nun den Weg durch Wald und Flur. Die aufkommende leichte warme Brise lud dazu ein, sich auf einem Plätzchen Moos am Waldrande niederzulassen, um in die Nacht zu lauschen, den Mond zu betrachten und sich sentimentalen Gefühlen hinzugeben. Vielleicht sollte er sich einfach hier im weichen Gras einen gemütlichen Platz zum Schlafen suchen, das wäre sicher viel angenehmer als noch weiter drei bis vier Stunden durch die Nacht zu rennen. Vielleicht könnte er ja wenigstens etwas abkürzen und quer über den Berg durch den Wald ins Dorf laufen. Dadurch sparte er bestimmt eine Stunde Weges und der warm leuchtende Mond würde ihm sicher genügend Licht spenden, damit er sich nicht im Walde verirrte. Gerade hier ging ein kleiner Wildpfad ab, der ihm früher noch nie aufgefallen war. Ohne lange zu überlegen, nutzte er die Gelegenheit und schlug sich quer durch die Büsche, immer im Zickzack den Berg hinauf, um dann von der Höhe aus ins Nachbartal zu gelangen. Viel schief gehen konnte dabei eigentlich nicht, höchstens, daß er etwas weiter oben auf die Straße gelangen würde.

Schon wieder ging ihm eine der Geschichten, die am Feuer erzählt worden waren, durch den Kopf. Ja, man hatte sogar auf ihn gedeutet und ihn augenzwinkernd ermahnt, auf dem Heimweg ja recht gut aufzupassen und nicht vom rechten Weg abzuweichen, sonst könnte es ihm genauso ergehen, wie dem alten Spielmann damals vor vielen Jahren. Dieser soll nach der Legende auf seinem Nachhauseweg von einem Feste in eine Bärenfalle gestürzt sein, in der schon ein rasender Meister Petz gefangen saß. Nur durch ständiges Fiedeln bis in den Morgen konnte er das Untier davon abhalten, ihn mit Haut und Haar aufzufressen und so sein Leben retten. Nun ja, eine Fiedel hatte er ebenfalls bei sich - und außerdem gab es schon lange Jahre keine Bären in dieser Gegend mehr. Da war es schon viel eher ratsam, sich vor irgendwelchen Sumpfmänneln oder Moosweiblein in Acht zu nehmen, die einen in die Irre oder in irgendein tiefes Sumpfloch locken wollten. Ganz eiskalt lief es ihm über den Rücken, kein Wunder bei all den schaurigen Phantasiebildern, die ihm durch den Kopf gingen. Vielleicht hätte er doch auf dem sicheren Hauptweg bleiben sollen, der das Dörfchen Bärenheide mit Schortau verband, und auf dem früher, ebenfalls in grauer Vorzeit, die Pestkarren mit den Toten zum Friedhof seines Dorfes gekarrt worden waren.

Mit einem Mal war es um ihn herum stockdunkel geworden, da eine leichte Brise ganz plötzlich eine Wolke vor den Mond geschoben hatte. Um nicht über die Wurzeln und Äste zu stolpern, die den winzigen Pfad zur Genüge bedeckten, setzte er sich nieder, um so lange zu warten, bis der Mond wieder zum Vorschein käme. Außerdem glaubte er, auch nicht mehr genau zu wissen, wo er sich eigentlich befand. Normalerweise hätte er schon längst den Höhenkamm erreichen müssen, um von dort auf kürzesten Weg ins Tal hinabzusteigen. Es war schon wie verflixt, war er doch früher häufig in dieser Gegend mit der Familie oder Freunden Pilzesuchen gewesen. Doch nachts sieht eben alles ganz anders aus als bei Tage. Wenn nur der Mond bald wieder aus seinem Versteck hervorgekrochen käme. Doch das kleine Wölkchen dort oben wollte ihn wohl zum Narren halten und versperrte ihm weiterhin die Sicht. Es nutzte eben alles nichts, er mußte sich einfach noch etwas gedulden, ehe er seinen Heimweg fortsetzen konnte.

2


Um ihn herum herrschte jetzt auf einmal absolute Stille, so daß ihm sein ängstliches Atemholen wie das laute Fauchen des Blasebalgs beim Dorfschmied und das wilde Pochen seines Herzens wie das dröhnende Hämmern des Erzhammers im Dorf unten am Bach vorkam. Selbst der leichte Wind, der eben noch sanft in den Bäumen geraschelt hatte, hatte sich anscheinend zur Ruhe begeben. Es kam ihm vor, als sei soeben der Lauf der Zeit von einer unsichtbaren Hand plötzlich angehalten worden. Er fühlte sich von einer unbestimmten Angst ergriffen, es war ihm, als wolle ihn jemand mit sich fortreißen, heraus aus seiner kleinen beschränkten, aber überschaubaren Welt, hinein in eine andere, von der er sich zwar wie magisch angezogen fühlte, vor der er aber gleichzeitig instinktiv zurückschreckte.

Er holte tief Atem und versuchte sich wieder zu fassen. Nur nicht den Verstand verlieren, Niklas, redete er sich selber Mut zu, das kommt doch alles nur von diesen Spukgeschichten, die du dir heute Abend angehört hast. Morgen wirst du über all das, was dir hier zugestoßen ist, lachen.

Um sich wieder etwas Mut zu machen, nahm er seine Fiedel in die Hand und versuchte, anfangs noch ganz zaghaft, dann langsam schneller und virtuoser werdend, eine weitere Strophe für sein neues Lied zu finden. Ohne daß er wußte, wie es ihm geschah, fühlte er sich auf einmal frei und beschwingt und drehte sich, wie von unsichtbaren Schwingen getragen, ganz locker und leicht im Kreise. Ein tiefes, noch nie in dieser Deutlichkeit gespürtes Gefühl hatte sich seiner bemächtigt, das all seine tiefsten Sehnsüchte, aber auch alle Geheimnisse, Schmerzen und Ängste, die er tief in seiner Seele barg, zu beinhalten schien. Wie berauscht ließ er den Bogen über die Saiten seines Instrumentes gleiten und begann zu singen. Seine Lippen formten Worte, die ihm bis dahin fremd gewesen waren.

Deine Zauberschwingen spür ich
Laß uns tanzen, heiß, begierlich
Eng umschlungen, unbeschwert
Augenblick der ewig währt.

Von der wehmütig-sehnsüchtigen Melodie ganz ergriffen, die sich aus den Tiefen seiner Seele wunderschön und voller Sehnsucht ergoß, drehte er sich im ausgelassenen Tanz unter den dunklen Bäumen des Waldes dahin. Erst nach einer geraumen Weile konnte er sich aus diesem Zauberreigen lösen, um sich etwas zu verschnaufen.

Seine Augen hatten sich inzwischen gut an die Dunkelheit des Waldes gewöhnt, und auf einmal glaubte er, ein fernes Licht zwischen den dichten Baumstämmen wahrzunehmen. Sollte er soweit vom Wege abgekommen sein, daß er am entlegenen Forsthaus herausgekommen war? Eilig näherte er sich dem flackernden Licht, das sich als ein Feuer entpuppte, um das sich noch einige Gestalten leise lachend und flüsternd versammelt waren. Der flackernde Schein des Feuers badete die kleine Gruppe in einem warmen Licht, das ihre Gesichter fremdländisch-schön aufleuchten ließ.

Es waren etwa ein Dutzend Männer und Frauen, die sich im Kreise niedergelassen hatten, einige Kinder lagen in Decken gehüllt etwas abseits und schliefen, ein Karren, auf dem sie anscheinend ihr gesamtes Gut geladen hatten, stand abseits im Dunkel, ein Esel war an einer nahen Tanne angepflockt und schaute neugierig auf den späten Ankömmling. Als hätte man ihn bereits erwartet, winkte man ihm einladend zu, doch in ihrer Mitte Platz zu nehmen. Niklas vermutete, daß es sich um Vagabunden, Zigeuner oder irgendwelche heimatlosen Landstreicher handeln mußte. Ihre farbigen langen Gewänder deuteten darauf hin, daß sie aus einem fernen Lande stammten. Er hatte zwar selbst noch nie Zigeuner gesehen, aber genau so hatte er sie sich nach den Erzählungen der Alten im Dorf vorgestellt. Die Leute sagten ihnen viele schlimme Dinge nach, daß sie Heiden seien, sich durch Stehlen, Betteln, Wahrsagen und andere gottlose Dinge ernährten, anstatt einem ehrlichen Handwerk nachzugehen, aber auch, daß sie ein musikalisches Völkchen seien. Auch sein Meister beschimpfte ihn zuweilen als Zigeuner und Vagabunden, wenn er bei der Arbeit träumte oder er es zum Feierabend nicht erwarten konnte, die Werkstattür hinter sich zuzuschlagen, um ein paar Takte auf seiner geliebten Fiedel zu spielen.

Anscheinend hatte er ziemlich lange mit offenem Munde so herumgestanden, denn auf einmal stand ein junges Mädchen, die ihr dichtes rabenschwarzes Haar offen trug, auf, lief lachend auf ihn zu und zog ihn zu sich und den anderen ans Feuer. Ein alter bärtiger Mann mit langem grauen Haar reichte ihm die Pfeife, aus der er soeben einen tiefen Zug genommen hatte und nickte ihm väterlich lächelnd zu, doch auch einmal zu probieren. Niklas nahm seinen ganzen Mut zusammen und zog den süßen betäubenden Rauch in seine Lungen. Auch ein großes Füllhorn machte die Runde, das mit einem süßen berauschenden Getränk bis obenhin gefüllt war. Es schmeckte nach Honig, Zimt, exotischen Früchten und nach vielem anderen mehr, ohne daß unser Musikus hätte ausmachen können, was es denn alles im einzelnen sei. Außerdem duftete es nach Weihrauch, Myrrhe und anderen exotischen Kräutern, die man wohl in die Glut des Feuers geworfen hatte.

Niklas fühlte sich wie im siebten Himmel, vergessen waren alle seine Sorgen und Leiden, und daß er doch unbedingt bis zum Morgengrauen daheim sein wollte, auch das hatte er schon längst vergessen. Wie gebannt starrte er auf das bildschöne fremde Mädchen, dessen Augen im flackernden Feuerschein geheimnisvoll tief und dunkel glänzten und fühlte eine unbändige Liebe zu ihr aus seinem tiefsten Inneren aufsteigen. Sie mußte wohl seine Gefühle erraten haben, denn sie rückte behutsam näher und legte ihre Hände ganz sachte auf seinen Schoß.

Wie lange sie auf diese Weise dagesessen hatten, wußte Niklas nicht auszumachen. Es kam ihm vor, als wäre es nur ein Augenblick gewesen, doch ein Augenblick, der sich ins Unendliche ausdehnte, ein Augenblick, für den Zeit keine Rolle mehr spielte.

Auf einmal begann der alte Mann, einen langsamen monotonen Rhythmus auf einer kleinen Trommel zu schlagen. Sein Nachbar griff sich eine Schalmei und begleitete ihn dazu. Wie erstaunt war Niklas, als er erkannte, daß es genau dieselbe Melodie war, die ihm den ganzen Abend nicht aus den Kopf hatte gehen wollen. Wie hypnotisiert sprang er auf, packte seine Fiedel, und stimmte in das schaurig-schöne Lied ein.

Heisassa, ihr Leit tanzt alle
Kumm, mir trinken noch paar Schalle,
Madel, gab mer noch enn Kuß
Eh ich noort ehaam gieh muß,

sang unser Musikant immer wieder, seiner Geige noch nie zuvor gehörte wunderbare Töne entlockend.

Kumm mit raa un bring de Ruh nei
Sing paar Lieder, daß mir fruh sei
Un vergassen unre Ploch
Tanz mer bis zum nächsten Toch.

Die anderen erhoben sich nun auch einer nach dem anderen und begannen ausgelassen mit Niklas zu tanzen und zu musizieren, nun wieder vom vollen Mondlicht bestrahlt, das die ganze Szenerie in ein geheimnisvolles Licht tauchte.

Ner aans von de süßen Gunge.
Den ich schu manchs Lied gesunge
Ner su 'n Madel will ich habn
Ihr mei ganzes Laabn hiegaabn.

Das zauberhafte Mädchen stand nun neben ihm und begleitete ihn auf einer kleinen elfenbeinernen Flöte. Wie ein ganzes herrliches Orchester hallte es durch die Nacht, der Alte erhöhte das Tempo auf seiner Trommel und wie in Trance, nahm auch der Tanz immer ekstatischere Formen an. Alles drehte sich wie in einem Wirbel und Niklas fiedelte auf seiner Teufelsgeige wie ein wild gewordener Paganini. Zu dem wunderschönen Mädchen gewandt, sang er voller Leidenschaft:

Deine Zauberschwingen spür ich
Laß uns tanzen, heiß, begierlich
Eng umschlungen, unbeschwert
Augenblick der ewig währt.

Er legte sein Instrument für einen Moment zur Seite, packte die so heiß Begehrte bei den Armen und wirbelte mit ihr in der Runde, von den anderen musikalisch angefeuert.

Madel, kaa dich nimmer lassn
Will de ganze Walt vergassn
Alles mog zer Neige gieh
Augenblick, du bist su schie.

Das Tanzen, Singen und Musizieren fand kein Ende. Setzten sich die einen erschöpft für einen Weile ans Feuer, dann sprangen schon wieder die nächsten ungestüm auf und nahmen ihren Platz ein. Das Füllhorn ging dabei immer wieder die Runde und schien niemals ein Ende nehmen zu wollen. Niklas nahm noch so manchen süßen Schluck des Zaubertrankes, der ihm jedesmal neue Kraft und Phantasie gab und ihn immer weiter aus der so trist empfundenen Wirklichkeit heraus in eine Märchenwelt der Feen und Kobolde und der entfesselten Sinnen und Begierden entführte. Das Mädchen lag in seinen Armen und er tanzte mit ihr in ein Meer des Vergessens. Der Glanz von tausend Sternen in ihren feuchten Augen entführte ihn in eine ferne, nie gesehene Märchenwelt, das Lachen ihrer Stimme hob ihn in vorher nie geahnte Höhen, aus denen er wie eine Lerche auf eine kunterbunte klitzekleine Welt hinunterblicken konnte, der Geruch ihrer Haare barg die tausend Düfte einer geheimnisvollen, von den Wellen des Ozeans umspülten paradiesische Insel und ihre Lippen ließen ihn orientalische Früchte schmecken, deren Namen ihm völlig unbekannt waren. Als sie dann ihre warmen Hände auf seine Brust legte, da war es um ihn geschehen. Seine Gefühle nahmen Formen an, die sich nicht mehr in Worte fassen lassen.

Seine Liebste eng umschlungen in seinen Armen haltend, fiel er schließlich in einen tiefen Schlaf. Noch im Traume währte das orgiastische Fest fort und betäubte alle seine Sinnen, bis er von den süßen Klängen wie ein Blatt vom Wirbelwind fortgerissen wurde, fortgespült aus seiner kleinen begrenzten Welt in eine neue, die unfaßbar und unbeschreibbar war.

3


Erst die Strahlen der Morgensonne weckten Niklas aus seinem bleiernen Schlaf. Wie erstaunt war er, als er bemerkte, daß er völlig alleine auf einer Waldlichtung lag. Selbst vom nächtlichen Lagerfeuer war nichts mehr zu entdecken. Nur seine Fiedel fand er, in eine filigran verzierte lederne Hülle gelegt, neben seinem Haupte. Er kroch aus der wollenen Decke, mit der ihn das unbekannte Mädchen zugedeckt hatte, und inspizierte die nähere Umgebung, ohne jedoch auch nur die leiseste Spur von den Zigeunern finden zu können. Auch sein Rufen war umsonst und scheuchte nur die Vögel um ihn herum auf. Niedergeschlagen wankte er zu seinem Ruheplatz zurück. Den Tränen nahe, griff er nach seiner Fiedel. Die Hülle fühlte sich ungewöhnlich schwer an, und als er neugierig hineinschaute, fand er eine große Menge güldener Taler darinnen, die ihn seine verschollenen Freunde als Geschenk zurückgelassen hatten. Das war gewiß viel mehr Geld, als ihm sein Meister für das ganze Jahr bezahlte, doch für ein Küßchen seines Mädchens hatte er gerne auf das ganze Geld verzichtet. Ganz unten lag noch ein zusammengefaltetes seidenes, rotes Tuch, in der er eine rabenschwarze Locke seiner Geliebten fand. Die Erlebnisse der Nacht waren also kein Traum gewesen. Von Sehnsucht nach ihr überwältigt, ließ er nun seinen Tränen freien Lauf und verfluchte seine Leichtfertigkeit, die Unbekannte nicht einmal nach ihrem Namen, nach ihrem Woher und Wohin gefragt zu haben. Ihm wurde bewußt, daß die Fremden überhaupt nur wenig gesprochen hatten, und wenn, dann hatten sie es in einer fremden Zunge getan. Nur ein einziges kleines Wort hatte er sich merken können; als er sie trunken vor Glück gefragt hatte, wo er sie wiederfinden könne, hatte sie ihm das Wort „Venusberg“ ins Ohr geflüstert. Doch wo dieser Ort zu finden sei, war ihm ein Rätsel.

An einer nahegelegenen Quelle stillte er seinen Durst. Er fühlte sich überhaupt sehr geschwächt nach dieser langen ausschweifenden Nacht und wollte sich nun beeilen, heim in sein Dorf zu kommen. Herr Meister und Frau Meisterin würden dort schon auf ihn lauern und bestimmt hinterhältige Fragen stellen, wo er denn die ganze Nacht über gesteckt habe, was er denn diesmal ausgefressen habe und so fort. Er schwor sich, ihnen kein Wörtchen von seinen ungewöhnlichen Erlebnissen zu erzählen.

Schnell packte er sein Bündel und machte sich auf den Weg. Recht bald konnte er sich im Walde wieder zurecht finden und schon nach einer halben Stunde hatte er den Weg im Tal erreicht. Von hier würde es nur noch eine gute Stunde dauern, bis er daheim sein würde. Wenn er Glück hatte, konnte er sich auch noch ein Stündchen hinlegen, ehe es zum gemeinsamen Kirchgang ging.

Obwohl er nun auf einem Weg wanderte, den er schon unzählige Male gegangen war, kam ihm vieles fremd und verändert vor. An einer Stelle standen auf einmal große Bäume, die die Aussicht ins untere Tal versperrten, an einer anderen hatte er freie Sicht, doch war er sich ganz sicher, erst vor knapp einem Jahr im Schatten einer großen Buche hier eine Rast eingelegt zu haben. Nur ein alter verwitterter Baumstumpf erinnerte daran, daß hier einmal vor langer Zeit ein großer Baum gestanden hatte. Doch wie groß war erst sein Erstaunen, als er zur kleinen Brücke kam, die den Dorfbach überquerte. Längs des Baches erblickte er zwei lange eiserne Schienen, die er so nur aus dem Bergwerk kannte, wo sein Freund Matthes arbeitete. Dort nutzte man solche Schienen, um darauf auf sogenannten ungarischen Hunten das abgebaute Erz und das Geröll bis zum Schachtloch zu schieben, aus dem es dann, durch eine Pferdekoppel angetrieben, in Förderkörben ans Tageslicht gehoben wurde.

Er war noch völlig vertieft in die Betrachtung der seltsamen Schienen, als ihn auf einmal ein fernes Gebrause aufschreckte. Ehe er sich fassen konnte, kam da ein riesiges eisernes Ungetüm auf ihn zugerast und stieß auch noch ein gräuliches Fauchen aus, als wollte es rufen: Geh mir aus dem Weg, du kleiner Knirps! Das tat Niklas schon ganz von alleine. Mit einem Riesensprung rettete er sich in den nahen Straßengraben, von wo aus er beobachtete, wie der feuer- und funkenspeiende Eisenkoloß an ihm vorbeibrauste. Er verschloß die Augen und griff sich an den Kopf. Das alles konnten nur die Nachwirkungen von letzter Nacht sein! Ganz sicher hatte er viel zu viel von diesem Knastertobak geraucht und vom Zaubernektar geschlürft. Bald mußte doch dieser ganze Spuk ein Ende haben. Also nichts wie heim ins Bett und erst mal richtig ausgeschlafen, dann würden sich seine Halluzinationen schon wieder geben.

Auch die nicht übersehbaren Veränderungen im Dorf hielt er für ausgemachte Hirngespinste. Zum Glück war es noch früh, so daß er keinen Menschen begegnete. Gleich mußte er beim Haus des Meisters angekommen sein, und dann nichts wie ins Bett!. Doch welch ein Schreck! Das Haus des Meisters war frisch angestrichen und statt der Werkstatt im Erdgeschoß gab es da ein Schaufenster, in dem alle möglichen Trödelwaren ausgestellt waren. Nun ja, das Schild an der Türe, das ihm vorher übrigens auch niemals aufgefallen war, trug wenigstens den richtigen Namen: „Georgi, Marie“ stand darauf, das war der Name der Tochter seines Meisters.

Ohne lange zu überlegen, klopfte er an die Tür. Heraus kam ein altes Weib, das ihn böse und mißtrauisch musterte. „Bei uns gibt’s nischt zim Frassnhuln, gieh lieber Arbitn, du hergeloffener Krakel.“
Die Alte faselte noch etwas von Überfall und Polizeiholen und schmiß dann energisch die Tür ins Schloß, noch bevor sich Niklas irgendwie erklären konnte. War er nun völlig allein verrückt, oder hatte sich im Laufe einer Nacht durch eine Seuche oder ähnlichem sein ganzes Heimatdorf in einen Narrenstall verwandelt?

Völlig ratlos trottete er in Richtung Kirche. Er ignorierte all die neuen Gebäude, an denen er vorbeigehen mußte. Eines davon konnte er beim besten Willen nicht übersehen. Es war ziemlich groß, scheußlich grau abgeputzt und hatte einen hohen Schornstein. Irgendwas von einer „Brauerei“ war in großen Lettern auf die Hauswand geschrieben.
„Gieht mich alles nischt a“, murmelte Niklas, „doch Bierdurscht scheine de Leit ja noch immer tichtich ze ham“, und setzte seinen Weg schnurstracks fort. Vor der Kirche würde er sicher einige seiner jungen Freunde treffen, die ihn darüber aufklären konnten, was mit seinem geliebten Schortau innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden passiert war. Da er sich nicht getraute, den Hauptweg zur Kirche zu nehmen, lief er quer über die Wiesen zum nahen Kirchhof, um sich von dort aus von hinten unbemerkt nähern zu können.

Auch die frischen Gräber auf dem Gottesacker gaben ihm viel zu denken. Sollten denn in letzter Zeit so viele Leute gestorben sein? Jeder einzelne Todesfall im Dorf wurde ja meist schon viele Tage vor dem großen Ereignis Anlaß aller möglichen Gerüchte und Vermutungen.

Vor einem alten kleinen Holzkreuz machte er schließlich halt. Das Grab schien schon seit Jahrzehnten nicht mehr gepflegt worden zu sein. Unkraut und wilde Blumen bedeckten das Geviert. Neugierig versuchte er, den schon arg verblichenen Namen des Toten auf dem Kreuz zu entziffern, dessen Schicksal ihm auf einmal ganz nahe ging. „NIKLAS MALTZER“, buchstabierte er mühsam, „sicher e genausu armer Kerl wie ich. Alt geworn is er jedenfalls net, schu mit zwansch hotter de Micke gemacht“. Genauso alt, wie er gerade mal war, ging ihm durch den Kopf. Auf einmal standen ihm die Haare zu Berge. „Niklas – was...???“, stotterte er.

Völlig betäubt und entkräftet ließ er sich neben dem Kreuz zu Boden gleiten. Er schloß die Augen - und das wunderschöne Mädchen erschien ihm wieder und winkte ihm geheimnisvolleinladend zu.

Als er nach geraumer Zeit die Augen wieder öffnete, stand ein alter gebückter Mann, der sich wackelig an einen Krückstock klammerte, vor ihm. Er schaute ihn neugierigen Blickes an und sagte dann:
“Ja, mei Gung, des war emol e ganz guter Freind von mir. Mit dam hammer dozemol zesamme Musik gemacht. Ja, des warn domols noch Zeitn, ich an dr Trommel ... Des is nu a schuh wieder fuffzich Gahr har. Ja, de Zeit vergieht, un mer ward net ginger.“

Erst jetzt musterte der Alte Niklas etwas näher. Er bemerkte seine Geige, betrachtete interessiert sein Gesicht und schüttelte dann verblüfft und ungläubig den Kopf. Niklas mußte vor Entsetzen aufschreien. Sollte der Alte da vor ihm wirklich sein alter Freund Bastel sein? Geschwind griff er nach seiner Fiedel und rannte fort, hinaus in Richtung der Wiesen, den verblüfften Alten kopfschüttelnd allein am Grabe zurücklassend.

Erst im Wald hielt Niklas völlig erschöpft in seinem rasenden Lauf inne. Er kehrte zurück zu der Waldlichtung, auf der er seine große Liebe erfahren hatte, von der er nie wieder loskommen würde. Er holte die rabenschwarze Haarlocke heraus und flüsterte „Venusberg“. Dort würde er seine Geliebte wiederfinden. Kurz entschlossen warf er sich seinen Beutel auf den Rücken und marschierte los, weg von seinem Dorf und seiner Heimat, in der er nichts mehr zu suchen hatte, fort in eine neue Welt, die sich nicht mit menschlichen Worten beschreiben läßt.


Dm C / Dm C / Am Em / Cism Fism Cism Fism

Dienstag, 8. Januar 2008

Omas Geburtstagsfeier

Es war bereits Ende Juli geworden, die Ferien der Kinder gingen langsam ihrem Ende entgegen und eine erbarmungslose Hitze lastete über Wald und Flur, über den bunten Häuschen und Gärten des Dorfes, die sich malerisch eingebettet im Tal an beide Seiten des kleinen Flusses schmiegten. Erst gegen Abend sanken die Temperaturen auf ein erträgliches Maß ab und erweckten die lethargisierten Dörfler zu neuem Leben. Überall wurden nun in den Gärten und vor den Garagen die gediegenen selbst gebauten bzw. billig im Kaufhof erstandenen Röstvorrichtungen aus den Schauern gezerrt, hurtig mit Steaks und Würsten prall bepackt, den Göttern im Himmel durch Rauchsignale angezeigt und schließlich den hungrigen Mägen als Dankopfer dargebracht.

Auch in Oma Lieselottes Garten herrschte an diesem schwülen Sommerabend reges Treiben. Wie alle Jahre wurde Großmutters Geburtstag durch die weitläufige Verwandtschaft feierlich begangen, und da es sich diesmal um ihren fünfundachzigsten handelte, war der Trubel besonders groß. Von nah und fern war man zum Schmause herbeigeeilt, und selbst die etwas popelige Westverwandtschaft hatte es sich diesmal nicht nehmen lassen, der Jubilarin ihre Referenz zu erweisen. Auch Pfarrer Gottlieb Selig und Bürgermeister Wolfgang Kunze waren auf eine Wurst und ein Bier vorbeigekommen, um etwas später am Abend das Engagement der rüstigen Dame für die Gemeinde mit ein paar anerkennenden Worten geziemend zu würdigen. Dazu spielte der Posaunenchor Choräle und Polkas, wenn nicht gerade Enricos Schwager Herbert als Hobby-DiscJockey heimatliche Klänge aus dem Schwarzwald, dem Riesengebirge und dem austro-bajuwarischen Alpenlande vom Band in hitverdächtiger Lautstärke erdröhnen ließ. Einige Mädchen aus der Nachbarschaft, die zuvor heimlich am Wein genippt hatten, fingen bereits an zu tanzen, und Rolf, Enricos Intimfreund, der diesmal auch mitgekommen war, tollte im Garten mit den Kindern, von denen er bereits mit „Onkel“ tituliert wurde. Enrico, der am festlich geschmückten Tisch in fröhlicher Runde beim Bier saß, ließ seine Augen müde zu ihnen hinüberschweifen. Er beobachtete zerstreut, wie sich Rolf in der Rolle des Tormanns verzweifelt bemühte, die geschickt gedrippelten Bälle seines Sohnes René, der seit kurzem in der Schulmannschaft zum Stürmer aufgestiegen war, zu erhaschen. Das gelang ihm jedoch nur selten. Trotzdem stachelte er den Jungen mit einem leicht spitzbübisch zwinkerndem Lächeln immer wieder zu immer gewagteren Angriffen an, mit einem Lächeln, wie es sein Sohn René gewöhnlich aufsetzte, wenn er seine drei Jahre ältere Schwester Sandra necken wollte. Diese frappante Ähnlichkeit fiel Enrico heute zum ersten Male auf. Bald glaubte er, auch gewisse weitere Ähnlichkeiten zwischen den beiden zu erkennen: die braunen, warm schillernden Mandelaugen, das gelockte dunkelblonde Haar, das kleine, etwas spitz auslaufende Kinn, das alles konnte einen auf ziemlich dumme Gedanken bringen, wenn man nicht genau gewußt hätte ...

Er vermied es, seine verfänglichen Gedanken weiter zu spinnen, und wendete sich abrupt seinem Schwager Willy zu, der schon seit einer Weile erfolglos versucht hatte, ihm zuzuprosten und in ein Gespräch über seine alles geliebte Feuerwehr, von der ebenfalls einige trink- und sangesfreudige Kameraden zum Feste erschienen waren, zu verwickeln.

„Und weißt du, was unser schwerster Einsatz in den Jahren nach der Wende war?“, fragte Willy gerade, mit großen Kulleraugen Aufmerksamkeit heischend in die aufgeschreckte Tischrunde blickend.

Für einen Augenblick wurde alles ruhig am Tisch, denn Willys sich bisweilen überschlagende Fistelstimme hatte den unangenehmen Nebeneffekt, sich auf penetrante Weise auch beim größten Lärm durchsetzen zu können, eine Fähigkeit, die bei seinen gelegentlichen Einsätzen als Oberlöschmeister der Dorffeuerwehr von größtem Nutzen sein mochte, im bürgerlichen Leben aber gewöhnlich nur als störend empfunden wurde.

„Nun, das war doch sicherlich euer Großeinsatz beim Löschen des Franzosenhäusels im Niederdorf“, hörte man da Herbert von seiner Beschallungsanlage her höhnend herüberrufen.
„Ihr kamt zwar ziemlich spät zum Löschen, aber zum Glück immer noch früh genug, um unsere Gemeinde endlich von diesem hartnäckigen Verkehrshindernis zu befreien.“

Über dieses böswillige, sich aber trotzdem hartnäckig haltende Gerücht im Dorf, das Herbert bereits zum wiederholten Male seinem Schwager in aller Öffentlichkeit vorhielt, konnte Willy überhaupt nicht lachen. Schließlich ging es hier um die Ehre seiner Feuerwehr, und da war bei ihm strikter Korpsgeist angesagt. Auch Bürgermeister Kunze guckte auf einmal ziemlich verunsichert drein, denn ihm wurde dem gemeinen Gerücht zufolge die Rolle des Auftraggebers bei der vermeintliche Brandstiftung zugeschrieben.

Als daher Willy von jäher Wut gepackt seinem verachteten Nazischwager ein paar deutliche Worte in puncto „Dorfehre“ und „Heimattreue“ zubrüllen wollte, tippte ihm der Bürgermeister beruhigend auf die Schulter.
„Komm laß mal, Willy“, ließ er sich mit seiner angenehmer Baritonstimme vernehmen. „Erzähl uns doch lieber, ob du vorhin nicht auf euren schwierigen Einsatz beim Großbrand in der Mastviehanlage Anno 92 angespielt hast.“
Doch Willy ließ sich nicht so schnell beruhigen, und ein wenig stotternd, wie fast immer, wenn er über die Maßen erregt wurde, bellte er über den Tisch zu seinem verhassten Schwager zurück:
„D-d-d-d-d-as könnte dir so passen, Lump. Ich frage dich doch auch nicht, wo du neulich nachts warst, als beim Asylantenheim d-d-der Heuschober gebrannt hat!“
„Das hat nun aber gar nichts mehr mit der Sache zu tun, Willy“, mischte sich jetzt Bürgermeister Kunze, nun bereits eine kleine Nuance nachdrücklicher, in den allmählich eskalierenden Streit zwischen den beiden dorfbekannten notorischen Kampfhähnen ein, sein inzwischen hochrot angelaufenes Gesicht dem feuchten Sprachschwall Willys mutig die Stirn bietend. Die jähe Färbung seines Gesichtes hatte allerdings nicht im entferntesten etwas mit gemütsbedingter Aufwallung zu tun, denn Kunze war für seine beinahe als stoisch zu bezeichnende Ruhe weit über die Grenzen seines Heimatdorfes hinaus berühmt, einer Ruhe, die ihn in dieser Zeit krisenbedingten permanenten Politikermangels fast den Posten des CDU-Kreisparteichefs beschert hätte, wäre da nicht vor Jahren einmal ein kleiner Skandal gewesen, in den er randläufig verwickelt gewesen war. Nein, seine auffällige Gesichtsverfärbung hatte wohl viel eher mit der Tatsache zu tun, daß aus der Wurst und der Flasche Bier, die er eingangs zu verzehren versprochen hatte, inzwischen drei saftige große Steaks, vier dicke Rostbratwürste und ein halbes Dutzend Halblitergläser Faßbier geworden waren, also Grund genug, um ausnahmsweise einmal Farbe zu bekennen.

Nichtsdestotrotz zeigte Kunzens Beschwichtigungsaktion positive Wirkung. Oberlöschmeister Willy, der auf einmal ziemlich kleinlaut geworden war, reichte seinem Dorfoberhaupt, sich vielmals für den Zwischenfall entschuldigend, eine Serviette, während Herbert, „das Städtchen Kufstein“ in betäubender Lautstärke den Gästen zu Gehör brachte, dadurch unbeabsichtigt auch die sich gerade für ein neues Ständchen am Gartentor sammelnden Bläser zu einer weiteren Bierpause nötigend. Als sich Enrico nach einer Weile schließlich bei Willy erkundigen wollte, über welche schlimme Brandkatastrophe er denn vorhin eigentlich hatte plaudern wollen, winkte dieser nur ungeduldig ab: er habe jetzt keine Zeit zum Debattieren, er solle ihn doch lieber vorbeilassen, denn seine Blase drücke ihm gewaltig.

Auch unter den versammelten Frauen hatte sich inzwischen eine angeregte feucht-fröhliche Stimmung breit gemacht. Oma Lieselotte ließ es sich dennoch nicht nehmen, den Damen immer wieder süße Liköre einzuschenken, die nach der genossenen Bowle und dem Wein am Nachmittag ein immer ausgelasseneres Benehmen an den Tag legten. Besonders Gerda krähte von Zeit zu Zeit lauthals über irgendwelche losen Witze, die die Runde machten. Enrico war der beschwipste Zustand seiner Gattin gar nicht recht, befürchtete er doch, daß zu Hause, wie gewöhnlich nach solchen Festivitäten, Übelkeit und schlechte Laune folgen würden, die mitunter ein bis zwei Tage anhalten konnten. Um das exzessive Trinkverhalten seine Frau etwas zu bremsen, näherte er sich vorsichtig von der Seite her der Damenrunde, sein Bierglas vorsichtshalber am Herrentisch zurücklassend.
Enricos gute Absicht wurde jedoch von Gerda als böswilliger Angriff und unrechtmäßige Einmischung in ihre Privatsphäre fehlinterpretiert. Wie von einer Tarantel gestochen, fing sie daher sogleich an zu kreischen, nachdem ihr Enrico ein paar gut gemeinte Worte ins Ohr geflüstert hatte. Ihre Freundinnen und Verwandten machten große Augen und versuchten, den sich anbahnenden hysterischen Anfall mit ein paar versöhnlichen Worten zu dämpfen. Doch ohne jeglichen Erfolg. Im Gegenteil, Gerda schien durch ihre Beschwichtigungen gerade erst richtig Feuer zu fangen, wie ein gefährlich vor sich hin schwelender Brandherd, der durch das unvorsichtige Öffnen eines Fensters plötzlich ausreichend Sauerstoff erhält, um sich zu einem flammenden Inferno zu entwickeln, das alles verschlingt, was sich ihm in den Weg stellt. Ihre ganze angestaute Wut, die nun endlich einen Weg aus ihrem Inneren nach draußen gefunden hatte, richtete sie geballt gegen ihren nun wie gelähmt neben ihr stehenden Ehemann, der, einem unvorsichtigen Löschtruppführer gleich, von den jäh heranschießenden Flammen überrumpelt wurde, die er doch eigentlich hatte ersticken wollen.
Gerda, die ansonsten nie ein Sterbenswörtchen über ihre familieninternen Probleme in die Öffentlichkeit dringen ließ, denn auf ihre Busenfreundin Heidi konnte sie sich hundertprozentig verlassen, ließ nun endgültig alle Hemmungen fallen. Wutentbrannt beschimpfte sie Enrico vor versammelter Runde als „erbärmlichen Schlappschwanz“ und „Sozialschmarotzer“, der sich seit Jahren erfolgreich vor jeder Arbeit drücke, den ganzen Tag nur faul zu Hause herumsäße, um schlechte Laune zu verbreiten, und der auf diese Weise Frau und Kinder ganz sicher noch an den Bettelstab bringen werde. Enrico hätte sich in diesem Moment am liebsten in die finsterste Ecke des Gartens verkrochen, doch seine Schmach sollte noch lange nicht ihren Höhepunkt erreicht haben. Denn jetzt holte Gerda zum Vernichtungsschlag gegen ihren einst so geliebten, in den letzten Jahren immer mehr an Achtung verlierenden und seit kurzem nur noch als Belastung und Bedrohung empfundenen Gemahl aus.
„Daß du ein schlimmer Säufer bist, das wissen ja inzwischen alle. Aber das, was ich heute über dich erfahren mußte, setzt dem allen noch die Krone auf, du Schuft und Verbrecher!“
In großer Hektik begann sie nun in ihrer Handtasche zu wühlen, bis sie ein zerknülltes Kuvert zu fassen bekam, das sie flugs herausholte und öffnete. Zum Vorschein kam ein an Enrico Walther adressiertes Schreiben, das sie nun hastig entfaltete, um es dann für eine ganze Weile wie eine erbeutete Kriegstrophäe vor den Augen der erstaunt aufblickenden versammelten Gemeinde wie besessen über ihrem Kopf in der Luft herumzuwirbeln. Durch diesen taktisch klug inszenierten Derwischsakt gelang es ihr, die Aufmerksamkeit auch des letzten stillen Zechers vor Ort zu erringen. Mit zitternder Hand ging sie nun daran, ihre Lesebrille hervorzusuchen, um den Text des Schreibens dem immer verblüffter dreinschauenden Publikum mit erregter Stimme zu verlesen. Von Zeit zu Zeit legte sie dabei kurze rhetorische Pausen ein, um absolut sicher zu gehen, daß auch alle die Schwere des belastenden Inhalts vollkommen erfaßten, aber auch, um eigene bitter-böse Kommentare als Pointen einzustreuen.
„Sehr geehrter Herr Walther,“ hub sie also an, räusperte sich dann vernehmlich und bemerkte dazu verächtlich: „Damit ist mein lieber Ehegatte gemeint, falls das einer von euch noch nicht begriffen haben sollte! Doch weiter im Text: 'In der Strafsache Ladendiebstahl am 1. April 200x in der Dietl-Verkaufsstelle in xxx. Wir möchten Ihnen hiermit mitteilen, dass die Geschäftsleitung der Dietl-Filiale bereits am 4. April 200x beim zuständigen Amtsgericht in xxx eine Anzeige wegen versuchten Ladendiebstahls eines Päckchens Bohnenkaffee Marke Jakobs die Krönung gegen sie erhoben hat. Das Verfahren gegen Sie wird am Montag, den 10. September, 9 Uhr, eröffnet werden. Es wird darauf hingewiesen, dass eine rechtliche Vertretung von Ihrer Seite geboten ist. ...“
Während Gerda in einem immer höhnischer werdenden Tonfall das Schreiben des Amtsgerichts bis zum abschließenden „Hochachtungsvoll“ der zeichnenden Richterin herunterrasselte, war Enrico, der reglos neben ihr stehengeblieben war, immer blasser geworden. Als die Rezitatorin schließlich in ihrem Wortschwall innehielt, herrschte einen Moment lang betretenes Schweigen. Selbst die noch anwesenden Kinder hatten mit Spielen aufgehört, um das ungewöhnliche Verhalten der Erwachsenen argwöhnisch zu beäugen. Enrico begriff plötzlich, daß durch die schonungslose Enthüllung seiner Gattin sein guter Ruf im gesamten Dorf, wo ihn ein jeder kannte, auf Dauer ruiniert worden war. Er schaute zitternd vor Erregung zu Boden, um nicht in die erstaunten, verächtlichen oder sogar zynisch grinsenden Gesichter seiner lieben Verwandten und Bekannten blicken zu müssen. Trotzdem spürte er ganz deutlich, daß ein halbes hundert Augenpaare vorwurfsvoll auf ihn gerichtet war. Eine jähe Wut überfiel ihn, und ehe es sich Gerda versah, hatte er ihr eine kräftige Ohrfeige verpaßt und den Brief, den sie noch immer fest umklammert hielt, ihren Händen entrissen. Gerda taumelte zurück, den Kopf schützend vor ihr Gesicht haltend, doch ohne einen Laut des Schmerzes von sich zu geben. Enrico beachtete sie nicht weiter, sondern stürzte sich ohne nach links und rechts zu blicken blindlings durch die Menge, um einen Augenblick später hinter der Gartenpforte im Dunkel der Nacht auf Nimmerwiedersehen zu entschwinden.

Erst jetzt erholten sich die Gäste allmählich von dem so aufregenden Schauspiel, das sich ihnen geboten hatte. Doch mit Rücksicht auf Gerda, die von ihrer Freundin Heidi tröstend in die Arme genommen worden war und nun stille Tränen vergoß, getraute man sich nur im Flüsterton über das Geschehene zu äußern. Nur Vater Walther, der schon seit vielen Jahren seinen einzigen Sohn für einen jämmerlichen Versager und Waschlappen hielt und deshalb die familiären Beziehungen zu ihm auf ein Mindestmaß reduziert hatte, fing mit einem Mal vernehmlich an zu schimpfen, faßte seine Frau am Arm und sagte zu ihr verärgert:
„Komm schon Erna, wir müssen endlich nach Hause, Hasen füttern. Wir haben hier schon viel zu lange rumgetrödelt“.
Erna folgte ihm, ohne einen Mucks zu wagen, wie sie es schon all die Jahre während ihrer nun schon bald fünfzig Jahre währenden Ehe gepflogen hatte.

Während Willy kopfschüttelnd zu Herbert hinüberging, um ihn darum zu bitten, die verdorbene Stimmung durch ein paar aufmunternde Klänge aus der Konserve wieder aufzulockern, versuchte Rolf den verblüfften Kindern mit sorgfältig gewählten Worten die Affäre als „belanglosen Ausrutscher von Onkel Enrico“ darzustellen. Doch ehe er mit seiner Erklärung zu einem Ende gekommen war, donnerte ein zünftiges „Wir san die lustigen Holzhackerbuam“ durch den Garten. Aber keiner der sangesfreudigen Gäste sang diesmal mit, kein ausgelassenes Mädchen traute sich nunmehr, das Tanzbein zu schwingen, und auch Oma Lieselotte hatte aufgehört, die immer noch zahlreich versammelte Gästeschar weiter zu bewirten. Sie hatte sich schweigend in eine stille Ecke zurückgezogen. Dort saß sie händeringend und machte sich die größten Sorgen um ihren lieben Enkel Enrico, dem ausgerechnet zu ihrem Geburtstag so übel mitgespielt worden war. Sie war die einzige, die in dieser Nacht aufrichtig um den Jungen trauerte und sich vornahm, ihm so bald wie möglich ein paar tröstende Worte zu sagen und ihre Hilfe bei dem zu erwartenden ernsten Familienkrach anzubieten. Warum nur hatte ihr der Junge nichts von seinen Geldsorgen erzählt? Sie hätte ihm doch von Herzen gerne hilfreich unter die Arme gegriffen.

Es dauerte nicht mehr lange bis zum allgemeinen Aufbruch der Geburtstagsbesucher, die sich zum Abschied alle nochmals verlegen die Hände reichten. Gerda stieg mit Sandra und René in Rolfs Wagen, um sich von ihm nach Hause fahren zu lassen. Nur Willy hielt seine Stellung in der Nähe des Einhundertliter-Bierfasses und schaute ziemlich deprimiert drein, denn als ehrenamtlicher Bierwart tat es ihm unsäglich leid, so viele Liter unverbrauchten Hopfensaftes bei Oma Lieselotte zurücklassen zu müssen. Das konnte er der guten alten Dame beim besten Willen nicht antun! So saß er noch bis gegen früh am Zapfhahn, unterstützt von Herbert, der auf seine Discoanlage aufpassen mußte und im Auftrage der Großmutter für einen geordneten Abschluß der Feier sorgen sollte. Erst gegen Morgen wankten die beiden eng umschlungen und die „Internationale“ intonierend ins Gästezimmer, wo ihnen Lieselotte ein Bett für die Nacht bereitet hatte.

Aus: Stefan Mösch: Enricos sozialverträglicher Abstieg - Eine Hartz IV-Tragödie aus dem deutschen Osten. (unveröffentlicht).