Samstag, 13. Februar 2010

E Weihnachtspäckel aus Berlin oder

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Das von der permanten Krise der Kapitalismus zerrüttete deutsche Land war in jenem Frühjahr von einem weiteren verheerenden Bankenkrach erschüttert worden, der dieses Mal der Binnenwirtschaft einen solchen schweren Schlag versetzte, dass die erst kürzlich an die Macht gekommene bürgerliche Regierungskoalition in die Brüche ging. Hauptsächliche Schuld daran hatte – darüber waren sich im Prinzip alle im Bundestag sitzenden Parteien einig – das neu beschlossene sogenannte Wachstumsbeschleunigungs-Gesetz, das sich in der Praxis als ein wirtschaftlicher Schrumpfungs- und Absturz-Katalysator erwiesen hatte, der seine verheerende Wirkung wie ein Virus in erstaunlich kurzer Zeit entfaltete. Die schockerte Kanzlerin übernahm ausnahmsweise die politische Verantwortung für das Desaster, schnappte ihren Hut und suchte sich einen gut bezahlten Job in der angeschlagenen Energiewirtschaft, die von ihrem Vorgänger vorsorglich privatisiert und zu einem Versorgungsinstitut für an- und abgeschlagene Politiker umgewandelt worden war. Ein von den Linken angestrengter Misstrauensantrag im Parlament sorgte dafür, dass binnen eines Monats vorgezogene Neuwahlen durchgeführt werden mussten.

Als eindeutiger Sieger ging dabei erstaunlicherweise die FDP aus dem Rennen. Ihrem gerissenen Vorsitzenden war es nämlich gerade noch rechtzeitig gelungen, zum populistischen Frontalschlag gegen seinen einstigen Koalitionspartner auszuholen. Mit dem Slogan „Wär' die Wirtschaft ganz privat, gäng's uns gut auch ohne Staat“ und dem Versprechen, alle noch verbliebenen Reste an gesellschaftlichem Eigentum schnellstens zu privatisieren – ausgenommen natürlich die ererbten Staatsschulden – und die auf diese Weise erzielten Gewinne umgehend an das Volk zu verteilen, gelang Guido ein verblüffender Coup, der die Voraussagen aller einschlägigen Politikprognostiker ad absurdum führte. Dass die Wahlbeteiligung nur schlaffe 20 % betragen hatte, tat nur wenig zur Sache, denn gewonnen ist nun mal gewonnen und Nichtwähler sind allemal selber daran Schuld, wenn sich mit ihrer indirekten Unterstützung irgendwelche zwielichtigen Elemente an die Schalter der Macht manövrieren, mit denen man just und gerade am wenigstens gerechnet hat. Ebensowenig kümmerte es die neuen Regierenden, dass es im Sommer zu Radauen verbunden mit schweren Straßenschlachten kam. Es war nämlich mittlerweile herausgekommen, dass das zu privatisierende Staatsvermögen proportional zum jeweils erzielten persönlichen Einkommen der Staatsbürger aufgeteilt werden sollte, denn Leistung sollte sich ja nun endlich wieder in unserem Lande verlohnen.

Nach erfolgreicher polizeilicher Niederknüppelung der vom Ausland angezettelten Hungerrevolte – den Einsatz von regulären Armeeeinheiten hatte der neue Kanzler mit Hinweis auf die immer geltenden demokratischen Grundwerte glücklicherweise noch einmal verhindern können – kehrte wieder gespannte Ruhe im Lande ein. Alsdann wurden die versprochenen Privatisierungsmaßnahmen eiligst in die Realität umgesetzt, so dass man bereits im Herbst von einem Ableben des Staates als einer fiskalisch aktiv handelnden juristischen Person sprechen konnte. Die in den Bundestag gewählten Politker trafen sich zwar auch noch weiterhin regelmäßig zum Palavern, waren nun aber hauptsächlich damit beschäftigt, ihre soeben verliehen bekommenen Gewinnanteile an den Börsen zu verwalten und gegen die grassierende Krise abzusichern. Jeder Staatsbürger war fortan für sein Wohlergehen selbst verantwortlich, die Arbeitsämter wurden durch private Jobagenturen abgelöst und der staatlich vorgeschriebene Versicherungszwang wurde aufgehoben und durch eine freiwillige private Gesundheits-, Alters- und Sozialvorsorge ersetzt. Zudem konnte nun ein jeder Unternehmer endlich selber frei entscheiden, was er mit seinen Millionen anfangen wollte, ohne dass ihm irgendeine gemeine staatliche Kontrollbehörde oder die Gewerkschaften ins Geschäft pfuschten.

Dies war also die gesellschaftliche Situation in meinem Heimatland, als ich Anfang Dezember als ein von den neuen Liberalisierungsgesetzen profitierender Volkskünstler beschloss, ein Weihnachstpäckchen an die verarmte Verwandtschaft in das Erzgebirge zu senden. Ich kaufte hierfür in Kreuzberg einen echt anatolischen Weihnachtsbutterstollen, der angeblich ein Jahr lang konservierbar war und packte ihn in einen Schuhkarton. Dann startete ich bei Google eine Internetrecherche, um herauszufinden, welche privatisierten Postagenturen überhaupt noch in der Haupstadt existierten, denn die alte Staatsfilialen waren inzwischen alle abgerissen bzw. zu Heilsarmeezentren umkonstruiert worden. Schließlich stieß ich auf einen Paketannahmedienst in Berlin-Wedding, den ich notfalls auch zu Fuß erreichen konnte, denn bei den privatisierten Verkehrsbetrieben wurde gerade gestreikt, nachdem der neue Besitzer, ein saudi-arabischer Weihrauchhändler, seinen zum Schnupperpreis übernommenen Angestellten den Tarif aufgekündigt und die Löhne halbiert hatte. Im Kleingedruckten des Paketdienstes „Inshallah Parcels Delivery Ltd.“ entdeckte ich zu meiner Freude ein „Sonderangebot für Frühaufsteher!!!“, das den vertrauenvollen Kunden folgendes lukrative Angebot unterbreitete: „ Alle Pakete nur noch zum halben Beförderungspreis!! (an jedem zweiten Donnerstag von 5 Uhr 30 bis 6 Uhr 29 Happy Hour in unserer Filiale! Natürlich ohne jegliche Gewähr).

Da es gerade Mittwoch, der 8. Dezember war, beschloss ich hurtig, meine Gewinnchance zu nutzen und stellte am Abend vorsorglich den Wecker, um mich am Donnerstagmorgen in aller Frühe mit meinem Päckchen auf die Socken zu machen.


2

Es war noch dunkel auf der Straße, als ich mich in aller Herrgottsfrühe auf den Weg machte, weil eine kommunal organisierte Beleuchtungsfirma für Großberlin nicht mehr existierte und die Bewohner meines Kiezes noch immer keine konsensfähige Lösung gegen dieses aufklärungssfeindliche Problem gefunden hatten und stattdessen dazu überggegangen waren, das neue Jahre herbeizusehnen, das sicherlich längere Beleuchtungszeiten mit sich bringen würde - wenigstens für eine Zeitlang. Doch die Dunkelheit um mich herum machte mir nur wenig aus, da es in meiner erzgebirgischen Heimatgemeinde Zschorlau schon seit vielen Jahren gang und gebe ist, die Straßenlaternen während der Nacht abzuschalten, zum einen, um den krakeelenden Dorftrinkern das Leben schwer zu machen, zum anderen aber auch, um den Karnikeldieben aus nah und fern das nächtliche Geschäft zu erleichtern.

Die „Inshallah“-Geschäftsfiliale empuppte sich als eine alte Betriebsruine, die provisorisch eingerichtet worden war und eher einer Karawanserei aus den „Märchen aus tausendundeiner Nacht“ als einem modern gestylten Service-Center glich. Bereits am dritten Schalter in der spärlich beleuchteten Empfangshalle traf ich auf einen bärtigen Herrn mit Turban, der der deutschen Sprache halbwegs mächtig war und nach einem halbstündigen Gespräch über die Suren Mohammeds endlich bereit war, mein Weihnachtspaket in Empfang zu nehmen. Schmunzelnd meinte er beim Empfang:

„Da haben sie aber Glück, dass der Ramadan in diesem Jahr bereits im September zu Ende gegangen ist, sonst wäre.... Aber was sehe ich denn da? Diese Postleitzahl kann doch unmöglich aus unserem Spezial-Sende- und Missionsgebiet Berlin-Brandenburg stammen?“

Er kramte eine Weile unter seinem Empfangsschalter herum und brachte dann einen fetten Schmöker zum Vorschein, den er auf muselmanische Art von hinten her zu durchforsten begann.

„Da haben wir das Malheur!“, ließ er mich schließlich nach fünfzehn Minuten wissen, nachdem er ungefähr bis Seite 8 des Schmökers vorgedrungen war, sich dabei verlegen seinen Hinterkopf kratzend.

„Ihr Empfangsort mit dem schier unaussprechlichen Namen Zsch-Zsch-Schtsch-Chr-Orlau liegt ja in AWE, dem Autonomen Weihnachtsgau Erzgebirge.“ „AWE“, die neue amtliche Abkürzung für meinen Heimatkreis, wurde von dem bereits zu solch früher Stunde zu dummen Späßen aufgelegten Schaltergwaltigen genüsslich als „Auuuweeee“ prononciert, wohl um mir anzudeuten, dass dieser vor kurzem durch den Auer Bürgermeister und selbst ernannten erzgebirgischen Autonomiechef so schwer erkämpfte regionale Ehrentitel mir noch gehörige Probleme zu bereiten vermöchte.

„Dafür können Sie natürlich keinesfalls unseren Sondertarif beanspruchen. Da unten herrschen ja inzwischen ziemlich chaotische Zustände, da muss ich erst mal meinen Chef fragen.“

Er verschwand durch das Hintertürchen, während ich immer nervöser werdend in einem Fort auf meine Uhr stierte. Es dauerte eine weitere Viertelstunde, ehe er endlich mit einem frohen Lachen auf dem Gesicht in seine Kundenbox zurückkehrte.

„Da haben Sie aber wirklich großes Glück, denn das Erzgebirge wird von uns noch bis zum 31.12. beliefert werden. Dann ist aber endgültig finito. Ein 120-prozentiger Aufschlag ist natürlich fällig, wenn...“

„Was?? 120 Prozent? Und deshalb bin ich so zeitig aus dem Bett gekrochen!“, wagte ich lauthals zu protestieren.

„Aber lassen Sie mich doch ausreden, … wenn Sie nicht unseren Sonder-Luftpostservice via Moskau nutzen wollen.“

„Und der ist billiger?“, fragte ich inzwischen misstrauisch geworden.

„Aber natürlich. Kostet nur ein Drittel des überhöhten Sonderpreises für abtrünnige Provinzen, die noch nicht zum sunnitischen Glauben konvertiert sind. Sie dürften aber in ihrem Päckchen keine leicht verderblichen Waren zu transportieren versuchen.“

„Mein Stollen hält sich mindestens ein halbes Jahr, das dürfte ja wohl genügen“, ließ ich den Schalterbeamten siegessicher wissen, ihm mein Päckchen über die Rampe zuschiebend.

„Das macht dann 15 Euro 99. Bis zum Februar werden Ihre Empfänger ganz sicher ihre Sendung erhalten haben.“

Er war gerade im Begriff, sich mein Päckchen zu schnappen, doch gelang es mir im allerletzten Augenblick gerade noch, es ihm wieder aus seinen gierig zupackenden Händen zu entreißen.

„Was soll das denn heißen?!“, rief ich ganz plötzlich ernüchtert. „Sie wollen mir doch nicht sagen, dass dieses kleine Päckchen zwei Monate brauchen wird, um die knapp 300 Kilometer bis ins Erzgebirge zurückzulegen? Und dazu zu einem solchen unverschämten Schweinepreis!“

„Ja, das soll es wirklich heißen - und lassen Sie gefälligst ihre unreinen Tiere aus dem Spiel. Doch das liegt nicht an uns, sondern an den Russen, die mit ihren Privatisierungsmaßnahmen noch nicht die selben Fortschritte gemacht haben wie wir hier in Deutschland.“

„Na hören sie mal!“, wurde ich nun langsam grantig, seinen animalischen Vorwurf geflissentlich überhörend. „Das ist aber ein Schweine-Service bei ihnen!“

Der Schalterangestellte machte große Augen, presste seine rechte Hand aufs Herz, als leide er unter Herzfrequenzstörungen - und schüttelte dann tief traurig glotzend seinen Kopf.

„Das möchte ich aber überhört haben“, räusperte er sich verlegen nach einer Weile, um dann behutsam-vorwurfsvoll lächelnd zu bemerken. „Wir sind nämlich eine anständige und saubere Firma. Und Schweinefleisch transportieren wir sowieso nicht wegen unserer strikten Glaubensvorschriften.“

Und etwas lauter werdend und strenger formuliernd fügte er hinzu: „Wollen Sie nun, dass wir ihre Paketsendung befördern, oder wollen wir es doch lieber bleiben lassen“.

Wie ein Ertrinkender, der nach einem letzten rettenden Strohhalm greift, nickte ich jetzt resigniert – da ertönte aus dem Hintergrund plötzlich ein lauter scheppernder Gong, der einige Sekunden lang durch alle meine Gehörgänge irrte und dabei fast um eine Haaresbreit meinen Gleichgewichtssinn aus der Balance geworfen hätte. Was hatte denn dieser Unfug zu bedeuten? Und wer wagte es da, meinen ungemein sensiblisierten musikalischen Hörsinn durch eine solch unmögliche Frequenz zu beleidigen? Der Serviceangestellte nutzte meinen momentanen Schockzustand, um erneut nach meinem Paket zu greifen, dabei entschuldigend mit den Achseln zuckend.

„Da haben wir die Bescherung. Es hat gerade 7 Uhr 30 geschlagen. Das bedeutet, dass unser Happy-Hour-Angebot ab sofort keine Gültigkeit mehr besitzt. Sie haben nunmehro also wieder den Normaltarif von 31 Euro 98 plus AWE-Sonderaufschlag zu bezahlen. Eine Quittung werde ich Ihnen natürlich für einen weiteren kleinen Aufschlag von zehn Prozent gerne ausdrucken.“

„Hiergeblieben, Canaille!“, heulte ich da voller Grimm auf. Trotz meiner überschüssigen Pfunde sprang ich wie ein junges, wild gewordenes Fohlen über die Schalterbarriere, fasste dem bleich und erstarrt an der Stelle ausharrenden Mann an die Krawatte und begann ihn wutentbrannt zu würgen. Er begann zu gurgeln und wurde allmählich blau im Gesicht. Sein Besorgnis erregendes Aussehen beruhigte mich allmählich. Ich schnappte mein Päckchen und ergriff schnellstmöglich die Flucht, als wäre mir eine Meute Blut triefender und Rache geifernder Sarazenen auf den Fersen.


3

Ich hatte wohl Glück im Unglück gehabt. Als ich mich nach dem Einbiegen in zwei Seitenstraßen für einen Moment in meiner Rennerei innehielt, um mich verstohlen umzublicken, konnte ich zu meiner Erleichterung feststellen, dass mich meine imaginisierten blutrünstigen Verfolger inzwischen wohl verloren haben mussten. Ich drosselte also mein Tempo, um meinen rasenden Puls autosuggestiv zu beschwichtigen und natürlich auch, um neue Pläne zu fassen, das Schicksal meines anatolischen Weihnachtsbutterstollenpäckchens betreffend. Nach kurzer reiflicher Überlegung beschloss ich, am nächsten Morgen persönlic per Bahn ins Erzgebirge zu fahren. Ich könnte ja meine Gitarre mitnehmen, um durch das Singen von ein paar frommen Liedern im Weihnachtsland die Kosten für mein Ticket wieder einzuspielen. Eine wirklich tolle Idee, fand ich sogleich, die, sollte sie sich wirklich realisieren lassen, mir keinelei Ausgaben, sondern im Gegenteil voraussichtlich eine saftige Gewinndividente bescheren würde.

Leider versäumte ich es am Abend, nochmals meinen Computer zu konsultieren, denn dann hätte ich erfahren, dass man bei dem Aktienunternehmen „Central European Railways“, einer Firma mit Hauptsitz in Los Angeles, und gleichzeitig einstweilige Rechtsnachfolgerin der „Deutschen Bundesbahn i.A.“, Tickets zum Normalpreis nur online, am Serviceschalter aber nur gegen einen saftigen Aufpreis von mindesten 20 % erhalten konnte.

Ohne etwas Böses zu ahnen, lief ich am nächsten Morgen wohlgemut zum Bahnhof Friedrichstraße, die Gitarre unter dem Arm geklemmt und einen großen Rucksack voller ungewaschener Wäschestücke für Mutti nebst meinem Geschenk für die verarmte Verwandtschaft im Gebirge auf dem Rücken. Ich freute mich schon auf den Genuss des von mir vorsorglich dazugepackten Sechser-Packs Sparbier, das ich mir in Bälde in einem gemütlichen Waggonabteil zu Gemüte führen wollte. Durch einen adrett ausschauende Servicepoint-Mitarbeiterin wurde ich nach einer halben Stunde Anstehen ungemein freundlich lächelnd begrüßt. Die lange Wartezeit hatte mich nicht verdrossen. Schließlich herrschte ja ein reger Personenverkehr zur Adventszeit, dem auch mit aller menschenmöglichen privatgewinnorientierten Raff-Finesse nur mühsam zu Halse gerückt werden konnte.

„Bitte ein Ticket nach Aue, Mademoiselle, der weltweit bekannten Erzgebirgsmetropole“, wisperte ich verlegen, nachdem mich die mir wie eine Märchenprinzessin erscheinende Dame vom Dienst nach meinem Begehr gefragt hatte.

„Bis Aue Hauptbahnhof oder bis Haltepunkt Stadion Lössnitzgrund“, tönte es lieblich schallend zurück. Ich war wirklich überrascht, welch liebreizendes und charmantes, zugleich aber auch flottes und gut geschultes Personal sich die Bahn neuerdings zu leisten vermochte, obwohl mir der Begriff „Hauptbahnhof“ für die heruntergekommene Ruine, die viele Jahre lang als schmutzige Visitenkarte Aues fungiert hatte und erst vor wenigen Monaten abgerissen worden war, doch ein klein wenig übertrieben erschien.

„Bitte bis zum Hauptbahnhof“, antwortete ich im optimistischen Nonchalance-Tone. „Ihr Service hier ist ja wirklich ausgezeichnet, mein Rapunzel.“

Ich fühlte mich ganz verzaubert, die Schalterfee besaß wirklich ein prächtiges rotes und lang wallendes Haar, das ich allzugerne benutzt hätte, um als Märchenprinz hinauf in ihre Turmkeremate zu steigen.

„Tja, wir sind eben zu einem kundenfreundlich orientierten Unternehmen mutiert worden“, ließ sich die charmante Maid nun freundlich lächelnd vernehmen. „Um eines unserer reservierten Spartickets zu bekommen, hätten sie natürlich schon vor zwei Wochen vorbeischauen oder wenigstens an dem vom ADAC veranstalteten Gewinnspiel teilnehmen müssen. Am billigsten kämen sie zur Zeit mit einer Fahrkarte nach Prag, die wir von diesem Jahr an alljährlich ab dem 11.11. 11 Uhr 11 täglich von 11 Uhr 11 bis 11 Uhr 22 als Sonderangebot anläßlich der närrischen Jahreszeit unserer trauten Stammkundschaft zum Verkauf anbieten.

Ich schaute auf meine Uhr. Das lange Ausharren in der Warteschlange hatte sich für dieses Mal für mich gelohnt, denn es war gerade eben 11 Uhr 15 geworden.

„Das ist ja wirklich toll, aber eigentlich will ich ja gar nicht nach Prag, sondern bloß nach Aue.“

„Das tut uns aber leid“, gurrte da mein verwunschenes Prinzesschen mit plötzlich leicht verworfen anklingendem Timbre im Unterton und reichte mir eine rote Pappnase.

„Dafür bekommen Sie aber heute dieses kleine Präsent von uns, persönlich unterzeichnet von unserem Regionalchef, und zwar gratis. Sie möchten also einen Normal-Fahrschein nach Aue? Das ist aber ungewohnlich. Ich nehme doch an, dass sie auch gleich die Rückfahrt mit lösen werden, damit könnten Sie ein Drittel des Fahrpreises sparen, vorausgesetzt natürlich, sie sind bereit, eine von uns für Sie persönlich ausgewählte Verbindung zu nutzen.“

„Was bedeutet denn das schon wieder?“, erdreistete ich mich verlegen zu fragen, denn leider hatte ich nur knappe 60 Euro in der Tasche - und das würde wohl keinesfalls für zwei Fahrten reichen. Ich wollte mir ja erst im Erzgebirge ein wenig überschüssiges Cash erspielen.

„Das bedeutet, dass wir Ihnen per Computer eine ganz bestimmte Fahrverbindung innerhalb der drei nächsten Wochen heraussuchen, die sie dann für ihre Rückfahrt benutzen müssten. Den genauen Zeitpunkt und die Fahrtroute legen natürlich wir fest, da unser Super-Spar-Angebot speziell während der Weihnachtsfeiertage nur sehr begrenzt ist und wir es doch am allerbesten wissen, in welchen Zügen noch ein Platz für Billigreisende frei ist.“

„Würden denn dafür 60 Euro reichen?“, wagte ich mich jetzt höflich bei meiner Traumfrau zu erkundigen.

Auf dem bis dahin so fröhlich einherschauenden Gesicht machte sich plötzlich ein leichter Schatten bemerkbar. Wie die Prinzessin auf der Erbse, die soeben entdeckt hat, dass man ihr etwas Unangenehmes unter die Bettdecke geschmuggelt hat, ermahnte sie mich nun in leicht grollendem Tonfalle:

„Wenn Sie etwa glauben, Sie könnten noch von unserem Nikolaustags-Sonderangebot profitieren, dann irren Sie sich gewaltig. Ein einfaches Ticket bis nach Aue – natürlich nur in Regionalzügen – kostet bei uns zur Zeit 69 Euro 89. Sie wissen ja, es ist Adventszeit, da steigen überall die Preise. Wenn Sie bereit sind, unser verbilligtes Rückfahrtsangebot zu nutzen, dann bezahlen Sie insgesamt nur 93 Euro 32. Nutzen Sie also ihre Chance,denn preiswerter wie bei uns geht es wirklich nicht.“

Sie kramte unter ihrem Schalter herum und brachte einen Plastikblumenstrauß zum Vorschein. Sie grinste dabei breit über ihr gesamtes Gesicht wie ein boshafter Troll, dem soeben ein ausgemachter Schabernack gelungen ist.

„Der ist für Sie, denn wie ich gerade auf meinem Computerbildschirm sehe, sind Sie heute unser 999. Bahnkunde in Berlin. Deshalb bekommen Sie auch noch 10 Euro von ihrem Ticketpreis geschenkt. Ist das nicht toll?“

Das war wirklich toll! Ich holte schnell meine Geldbörse aus der Hosentasche, um mein momentanes Barvermögen noch einmal schnell durchzuzählen. Ich besaß genau 59 Euro 92, die ich der Märchenfee sogleich vor die Nase schüttete.

„Also ein Einfachticket nach Aue Hauptbahnhof, ohne Rückfahrt aber mit den zehn Euro Ermäßigung als ihr neunundneunzigster Tageskunde. Die drei Pfennig Rest sind natürlich für Sie.“

Ein vernehmbares Räuspern kündete davon, dass mein Service-Engel keineswegs mit meiner prompten Bezahlung zufriedengestellt war. Sie sah jetzt auch gar nicht mehr aus wie ein solcher, sondern viel eher wie eine brüskierte Königin, der man plötzlich zu nahe getreten ist und die sich daher fürchtet, dass man ihre mit Pommade übertünchten zarten Fältchen im Gesicht entdecken könnte. Leicht sarkastisch und um eine deutliche Distanz mir gegenüber bemüht äußerte sie nach einer kurzen Kunstpause verstellt seufzend:

„Mein Herr, darf ich Sie freundlichst darauf hinweisen, dass natürlich zu dem ermäßigten Ticket von 59 Euro 89 noch eine Schaltergebühr von 20 Prozent dazukommt, denn wir müssen ja auch von etwas leben.“

„Zwanzig, waaaas?“, schrie ich entgeistert, dabei so große Augen machend, wie weiland der Wolf im Märchen vom Rotkäppchen, nachdem er nämlich mitbekommen hat, dass ihm nach seiner Betäubung von böswilligen Leuten schwere Wackersteine anstatt des zarten Fleisches in den hungrigen Bauch manövriert worden waren. Aber das dereinst so unschuldig dreinblickende Rotkäppchen, das wohl mittlerweile längst einen Managementkurs zur Gründung eines scheinselbständigen Unternehmens absolviert hatte, blieb hart und unerbittlich.

„Das macht also summarum genau 71 Euro 90, mit Tringeld als glatte 72 Piepen, wenn es dem gar so sparsam daherkommenden Gentleman genehm ist.“

Genehm war mir schon lange nichts mehr. Ich stieß ein wahres ur-erzgebirgisches Wolfsgeheul aus und ließ meine hart ersparten Groschen wieder flugs in meiner schmalen Geldbörse verschwinden.

„Damals, in der guten alten Zeit, da bezahlte man noch siebzehn zwanzig Ostmark für eine Fahrt von Berlin nach Aue, und zwar ohne ein einziges Mal umsteigen zu müssen und egal, ob an einem Wochen-, Feiertag oder zu Halloween, sie blöde aufgetakelte Schnepfe. Aber das können Sie ja alles gar nicht wissen, weil Sie damals noch nicht aus ihrem Ei geschlüpft waren. Ich danke für den kundefreundlichen Service. Auf Nimmerwiedersehen, Sie rote Feuerteufelin!“

Ich drehte mich um, um die hohen Hallen des inzwischen ach so heruntergekommenen einstigen nationalen Bahnunternehmens schnellstmöglich zu verlassen, hörte aber noch während meines ungalanten Abgangs, wie die demaskierte böse Fee mir hämisch-schnippisch hinterrief:

„Dann fliegen sie doch, Sie Schluchtenjodler!“


4

Natürlich wäre ich jetzt am liebsten geflogen, genau wie mir die böse Hexe am Schalter nachgehöhnt hatte. Doch flog ich zunächst einmal hinaus ins Freie, und zwar ganz kräftig auf mein Hinterteil, da ich in meiner Hast nicht auf das Eis, das den Bahnhofsvorplatz bedeckte, nicht beachtet hatte. Verschämt klopfte ich den Straßendreck von meinen Hosen, während mich ein Grüppchen Clochards mit Bierflaschen in der Hand amüsiert betrachteten. Ihr Hund fing an zu bellen und hätte sich wohl auf mich gestürzt, hätte sich nicht einer der rauhen Gesellen schnell dazwischengestellt, um seinen Köder mit einem Fußtritt wieder zur Raison zu gemahnen.

Betrübt und entmutigt ergriff ich meinen Gitarrenkoffer, der mir beim plötzlichen Sturz aus den Händen entglitten war, um mich wieder auf den Heimweg zu machen. Dabei stieß ich wiederholt mit Passanten zusammen, denn ich richtete meine Blicke fortwährend nach unten, weil ich mich vom Eise auf dem Fußsteig in meiner persönlichen Sicherheit bedroht fühlte.

Auf einmal klopfte mir irgendjemand ziemlich kräftig auf den Rücken. Ungehalten drehte ich mich um, mit der Absicht, den rücksichtslosen Spaßvogel eine Ohrfeige zu verabreichen, denn ich war momentan gar nicht in der Laune, mich durch irgenwelche blöden Streiche foppen zu lassen. Ein mageres Bürschchen mit vergoldeten Pappflügelchen auf dem Rücken hielt mir unschuldig lächelnd ein Blatt Papier unter die Nase:

„Los, das musst du lesen! Du siehst doch auch aus wie einer, der so schnell wie möglich diesen Moloch verlassen möchte, um einfach ins Blaue zu entfleuchen.“

Diesem jungen Mann konnte man einfach nicht böse sein. Ich nahm also seinen Zettel und dankte ihm mit einem leichten Kopfnicken, ehe ich verzagt weitertrottete. Eigentlich hatte ich vorgehabt, das zusammengeknüllte Papier in meiner Hand in den nächsten Papierkorb zu werfen, doch dann glättete ich es wieder, von einer unerklärlichen Neugierde getrieben.

„EUROPAWEITES ANGEBOT!!!! Last-Minute-Tickets von Xmas Airs, für nur 19,90 Euro wohin Sie auch heute noch wollen! Natürlich einschließlich der Extra-Fahrtkosten an jeden beliebigen Ort im Umkreis von 200 Kilometern von unseren Landeplätzen.“

Auf der Rüchseite klebte wirklich ein echt aussehendes Flugzeugbillett, das angeblich dazu berechtigte, bis 24 Uhr einen Flug mit einer Maschine der Xmas Airs, die im stündlichen Takt nach allen Himmelsrichtungen abgingen, zu benutzen. Das konnte doch nicht wahr sein. Das war sicherlich wieder einmal so ein blöder Werbescherz zur Adventszeit. Trotzdem machte ich sofort eine Kehrtwende um 180 Grad, um mich auf die Suche nach den dürren Kerl zu machen, der sicherlich noch irgendwo in der Nähe aufzufinden sein musste. Wirklich, da drüben stand er, in einem erregten Gespräch mit einer fetten Frau begriffen, die zwei schwere Koffer an ihrer Seite abgestelllt hatte. Ich stürzte mich von hinten auf ihn, um ihm nun meinerseits die Faust auf die schmale Schulter zu poltern. Ohne im mindesten zu erschrecken, drehte er sich sofort zu mir um, als hätte er meinen plötzlichen Überfall schon längst erwartet. Er strahlte förmlich, als er sich naiv auflachend an mich wendete:

„Na, haben Sie es sich schon überlegt? Das Angebot gilt aber nur bis heute Nacht. Also sputen Sie sich, damit Sie noch rechtzeitig nach Tempelhof kommen.“

Es war also wirklich wahr. Dieser unschuldige Bursche vor mir konnte unmöglich lügen, das sah man sofort seinen offenen Augen an. Ich umarmte ihn spontan und rannte dann zum nächsten Taxi, das gerade um die Straßenecke gebogen kam.

„Schnell zum Flughafen Tempelhof“, rief ich dem erschrockenen Chauffeur zu, mich sogleich auf den Rücksitz seinens Wagens stürzend.

Der Junge vor dem Bahnhof hatte wirklich Recht gehabt. Es dauerte nicht lange, und schon saß ich eng gedrängt in einer uralten Flugmaschine, einer sowjetischen IL 18 aus den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts, die mich nun in meine erzgebirgische Heimat bringen sollte. Neben, hinter und vor mir lauter Russen, Vietnamesen und andere Ausländer, die alle via Karlsbad in ihre Heimatländer zurückkehren wollten. Eine Frau saß sogar noch im Pyjama, da sie wohl die frohe Botschaft heute morgen im Bett erhalten und danach nicht mehr die Zeit gefunden hatte, sich ordentlich umzuziehen. Ein orthodoxer Proester hielt eine kurze Ansprache und besprühte dann mich und die anderen todesmutigen Insassen mit Weihwasser. Ich ließ mir sein Tun gerne gefallen, denn ein wenig kirchlicher Segen mochte dienlich sein, unser kleines, arg schwankendes Flugmobil sicher an seinen Bestimmungsort zu bringen.

Der Flug gedieh wirklich vortrefflich und alle waren bester Stimmung. Auch die kleine Werbeveranstaltung, die zum Kauf sibirischer Bärenpelze animieren sollte, ließ ich mir gerne gefallen, schließlich gab es dazu Wodka Gorbatschow und zwar aus Sto-Gramm-Schnaps-Gläsern, wie es nun einmal seit jeher bei unseren Freunden aus dem Osten üblich ist. Ich bekam sogar noch ein zweites Glas in die Hand gedrückt, nach dessen Leerung ich ziemlich schnell müde wurde. Als ich gerade über dem Einnicken war, wurde ich auf einmal ruppig wach gerüttelt. Neben mir stand die alte Matrone, die mich schon beim Einsteigen mit einem kräftigen Händedruck an Bord begrüßt hatte und die ihrer Uniform nach, auf der fünf Reihen pompöser Orden prangten, wohl die Stewardess der Maschine sein musste.

„Mein Herr, Sie müssen in zehn Minuten aussteigen. Machen Sie sich also bitte bereit.“

„So schnell“, erwiderte ich gähnend. „Ich nehme doch an, dass ich mit den anderen in Karlsbad aussteigen muss, um dann mit dem Zug zurück...“

„Sie wollten doch wohl bis nach Zschorlau fliegen? Da brauchen Sie doch gar keinen solchen großen Umweg zu machen. Kommen Sie doch einmal mit mit nach vorne ins Cockpit, da können wir am besten Ihr kleines Problem klären.“

Ich war wirklich überrascht, wie gut die schon ziemlich weit in die Jahre gekommene Dame der deutschen Sprache mächtig war. Ihrem Aussehen nach war sie gewiss eine Russin, die schon seit der Indienststellung des alten Flugzeuges ihre Servicedienste versah. Ein wirklich gutes Zeichen dafür, dass es anscheinend bisher zu keinen größeren Katastrophen mit der Maschine gekommen war. Die alte Stewardess klopfte dem Piloten auf den Rücken, einem bärtigen Greis, ungefähr doppelt so alt wie sie, der ganz sicher schon im Zweiten Weltkrieg Bombereinsätze geflogen hatte. Auch das konnte mich nicht erschrecken. Schließlich wusste ja ein jeder, dass man in Russland bisweilen sehr alt wird und mitunter auch erst mit neunundneunzig Jahren seine Fahrerlaubnis macht. Die beiden alten Leutchen begannen ein anregendes Gespräch auf Russisch. Schließlich griff der angegraute Flugzeugführer unter seinen Sitz, um von dort eine Halbliter-Wodka-Flasche zum Vorschein zu bringen. Er nahm einen kräftigen Schluck und reichte sie dann an mich weiter.

„Dawai, trinken Sie towarischtsch. In zehn Minuten müssen Sie aussteigen. Den Fallschirm wird Ihnen Olga natürlich anlegen. Da, da da.“

Er bekam einen leichten Hustenanfall, von dem das kleine Flugzeug in mächtige Turbulanzen geriet.

„Fallschirm? Das ist ja wohl ein Witz“, kicherte ich nervös, doch ich sollte mich getäuscht haben, denn schon wurde mir von der Stewardess ein Sack um den Leib geschnürt. Dann wurde ich nochmals eindringlich ermahnt:

„Das ist Ihr Fallschirm. Sie müssen wirklich nur an diesem Nipppel ziehen, aber zählen Sie zuerst langsam bis zehn.“

Jetzt bekam ich eine dicke Pelzmütze auf meine Bärenmähne gedrückt.

„Sie sollen ja nicht frieren. Heute ist es nämlich draußen sehr kalt. Aber keine Angst, die Firma, für die wir dieses neu entwickelte Modell erproben sollen, hält das Produkt für einen wahren Verkaufsschlager, bei jedem Wind und Wetter ganz ohne Risiko einsetzbar.“

„Aber ich will doch gar nicht abspringen. Nehmen Sie mich doch bitte noch bis nach Karlsbad mit, die Zugfahrt bis nach Aue werde ich dann auch gerne aus meiner eigenen Tasche bezahlen“, versuchte ich auf diplomatische Weise meinem zugedachten Schicksal zu entfliehen.

„Njet, njet“, hörte ich da vom Steuer vorne den Weltkriegsveteranen schimpfen. „Olga, dawaij, dawaij, wir sind gleich da.“

„Ich kann Sie beruhigen“, versuchte die Stewardess, mir Mut einzuflößen. „Wir befinden uns auf einem Nonstop-Flug nach Moskau, und auch die andern Fluggäste werden bald abspringen müssen. Sie sind der erste. Seien Sie stolz darauf. Juri Gagarin ging es damals auch nicht anders! Also machen Sie schon hin“, fügte sie nach einer kurzen Pause schon viel strenger geworden hinzu.

„Keine Widerrede mehr! Sie wissen Bescheid. Uns vergessen Sie auch Ihre Kalaschnikoff nicht.“

Mit diesen Worten drückte sie mir meinen Gitarrenkoffer in die Hand, während ich mit meiner anderen Hand den Rucksack mit meinem anatolischen Weihnachtsbutterstollen umklammerte. Aber wie sollte ich denn so voll bepackt den Fallschirm-Öffnungsstrick betätigen können, fiel mir plötzlich ein. Ich wagte also nochmals zu protestieren, erneut ohne jeglichen Erfolg. Nur eine Schwimmweste wurde mir noch gewährt, die ich für eine eventuelle Notlandung auf dem nahe gelegenen Filzteich benutzen sollte.

Ehe ich mich versah, war ich von Babuschka in eine finstere Ecke geleitet worden, unter der sich eine verborgene Falltür befand, wie ich sogleich am eigenen Leibe erfahren musste. Ich hörte nur noch ein „Doswidanja“ und ein schallendes Gelächter hinter mir, dann befand ich mich bereits im Flugkanal und eine halbe Sekunde später im Orbit. Mir verblieb nicht einmal die Zeit, mich ordentlich von den anderen Fluggästen zu verabschieden. Mein schrecklicher Absturz in die unendlichen Tiefen des erzgebirgischen Pultschollen-Mittelgebirges begann. Noch niemals war es mir so klar bewusst geworden, wie flach in Wahrheit mein geliebtes Erzgebirge ist. Und jetzt fiel mir zu guter Letzt auch noch ein, dass den Winter über das Wasser des Filzteichs abgelassen wurde. Was sollte ich also mit dieser verflixten Schwimmweste eigentlich anfangen, die man mir da oben zwangsweise umgegurtet hatte? Da plötzlich hämmerte es durch meinen Kopf, dass ich ja auch noch ganz dringend die Reißleine zur Öffnung meines Fallschirmes betätigen musste, denn inzwischen waren bestimmt schon zehn mal zehn Sekunden Absturzzeit vergangen. Ich geriet in Hektik. Ich hatte total vergessen, wie das Ding funktioniert. Und mein Fall beschleunigte sich einstweilen die ganze Zeit über um 9,81 Meter pro Sekunde im Quadrat. Ich musste also meinen flinken Berechnungen nach schon in ziemlich knapper Höhe als Sterni-Schnuppe über dem Kaff Aue zu sehen sein. Wenn es mir nicht gelänge, innerhalb kürzester Frist meinen Fallschirm zu öffnen, dann war ich unwiderruflich verloren. Welch eine Schande für den Herstellungsbetrieb des Fallschirms! Bei einer deutschen Qualitätsproduktion wäre das ganz sicher nicht passiert! Aber ich konnte doch beim besten Willen nicht meinen anatolischen Weihnachtsstollenbeutel fallen lassen, um eine Hand für den Reißgurt freizubekommen, noch viel weniger meine teure Lederer-Gitarre aufgeben, meinem einzigen Reichtum, den ich noch auf dieser in Dekadenz verfallenden Welt besaß, Was tun?! Ich flog und flog...

Dann schrie ich entsetzt auf. Mein Wecker hatte gerade zu läuten angefangen, um mich zu ermahnen, dass ich auf keinen Fall meinen Termin beim Arbeitsamt versäumen solle. Schweißüberströmt sprang ich aus dem Bett, immer noch geschockt von dem Schreck. Denn die Folgen eines nicht wahrgenommenen Arge-Termins würden wohl noch viel katastrophaler ausfallen, als ein solch kleiner geträumter Absturz aus einem russischen Flugzeug. Deswegen Doswidanja, towarischtschi, ich muss mich sputen!